Gedanken zum Abschied

Meine persönliche Geschichte verbunden mit unserm Gymnasium beginnt vor über 54 Jahren. Um den Jahreswechsel von 1959 nach 1960 herum überlegten meine Eltern, auf welche weiterführende Schule sie ihren Sohn, dem seine Lehrerin, die mit „Fräulein“ anzureden war, zwar viel Fantasie, aber in Mathematik eine gewisse Denkträgheit attestiert hatte, schicken sollten. Mit heutigen Worten würde man sagen, der Bursche schien eingeschränkt gymnasial geeignet zu sein. Nach bestandener Aufnahmeprüfung konnte ich Ostern 1960 am neusprachlichen Gymnasium an der Siegesstraße beginnen. Nachdem ich auf der damaligen Volksschule (dies entspricht der heutigen Grundschule) mit 56 bis 61 Kindern in einer Klasse gesessen hatte, erschien mir die neue Klassengröße mit 41 Jungen als eher klein. Wir hatten unser Klassenzimmer in Raum 118, der mit Bänken bestückt war, wie man sie heute in Schulmuseen findet.

Treffe ich heute meine ehemaligen Klassenkameraden, landet unser Gespräch schnell bei unseren ehemaligen Lehrern. Es gab sogenannte „Originale“, sie erschienen uns als sehr alt, sie erzählten viel vom Krieg, der ihre Jugend geprägt hatte und sie waren in der Regel sehr streng. Von daher beschränkten sich Streiche nur auf wenige – aus heutiger Sicht bemitleidenswerte – Lehrer. Hinzu kam, dass auch unsere Väter streng waren, wenn man in der Schule negativ auffiel. Man hatte den Familiennamen beschmutzt und musste – wie das einmal bei mir nach einer aus meiner Sicht eher harmlosen Rauferei der Fall war – mit einem Bambusstock auf schmerzhafte Weise in Berührung kommen. Eine Ausnahme in fast jeder Hinsicht war unsere erste Klassenlehrerin, Frau Dr. Druxes, die ebenfalls 1960 als erste Frau in ein von Männern dominiertes Kollegium eintrat. Sie hatte fast schon mütterliches Verständnis für uns Buben. Wir haben sie sehr gemocht. Auch unser Biologielehrer kommt schnell ins Gespräch. Ein bis zweimal pro Jahr konnten wir ihm scheinbar glaubhaft versichern, dass die Parallelklasse – im Gegensatz zu uns – den Zeichentrickfilm „Wie der Maulwurf seine neuen Hosen bekam“ sehen durfte. Obwohl der Film schon für Kinder ab einem Alter von etwa 6 Jahren geeignet war, hatten wir bis in die Oberprima unseren Spaß. Vielleicht traf er den weichen Kern des harten Geschlechts. Der absolute Höhepunkt unseres Schülerdaseins war unsere Klassenfahrt nach Paris in der Unterprima.

1968 habe ich dann Abitur gemacht. Mittlerweile war der Schuljahresbeginn auf den Sommer verlegt worden, und ein Mitschüler hatte sich während der damaligen Oberprima die Kopfhaare schulterlang wachsen lassen. Unser Deutschlehrer drückte ihm eines Tages ein 2- DM Geldstück in die Hand und verband dies mit der Aufforderung „Morgen sind die Haare ab!“ Und in der Tat äußerte er am nächsten Tag mit neuer Kurzhaarfrisur verlegen in die Runde der Staunenden: „Ich wäre sowieso zum Frisör gegangen.“ Dies zum Thema „Die 68-er“ an unserer Schule.

Mein damals bester Freund, der eine so genannte Ehrenrunde gedreht hatte, berichtete mir im Herbst desselben Jahres, dass ich die Schule ein Jahr zu früh verlassen hätte. Wunderbare Wesen – wohl vom anderen Geschlecht – würden den Schulhof nun bereichern.

1973 konnte jedermann in der Presse lesen: „Die Schule braucht dich!“. Lehrerinnen und Lehrer wurden dringend gesucht. So fing ich im Februar 1974 sowohl in der Zweigstelle „Scheidtstraße“ in Wuppertal-Ronsdorf als auch am Stammsitz in der Siegesstraße als angestellter Lehrer mit 24 Wochenstunden Mathematik an.

Da ich schnell den Eindruck hatte, in diesem Beruf kannst du glücklich werden, begann ich im Dezember desselben Jahres meine Referendarzeit hier an der Siegesstraße. Das ehemals neusprachliche Gymnasium hatte diese spezielle Ausrichtung aufgegeben. Es war – wie man es nannte – enttypisiert worden, und ich konnte mein Fach nun auch in einem Leistungskurs unterrichten. Ebenso war ich jetzt Klassenlehrer einer 9 und konnte erstmalig eine Klassen-fahrt an die große Saarschleife leiten. Die Betten waren zu hart, wir sind traditionsgemäß viel gewandert und die Stimmung war gut. Wandern und Ankommen bleibt ein lohnendes Erlebnis. Einzig der Herbergsleiter hatte vor einem nachwachsenden deutschen Beamten wenig Respekt. So musste ich nachts gegen 2 Uhr nach erhöhter Lautstärke in einem der Schülerräume im Schlafanzug in seinem Büro antreten. Er donnerte mir „Haltung annehmen, wohl nicht gedient!“ entgegen. Für den Krach waren – wie das oft so ist – andere Schüler verantwortlich, die bereits in der Frühe selbigen Tags die Heimreise antreten mussten.

Nach 9 Jahren in der Fremde kehrte ich 1985 zunächst als stellvertretender Schulleiter wieder an die Siegesstraße zurück. Der Einstieg wurde von der Diskussion begleitet, die Schule in ein Ganztagsgymnasium umzuwandeln. Das Ergebnis dürfte bekannt sein.

Mittlerweile bin ich in ein Alter gekommen, in dem ich rückblickend die Frage nach meinen persönlichen Höhepunkten in der Zeit des Schulleiterdaseins seit 1991 stelle. Neben einer unüberschaubaren Vielzahl von intensiven Begegnungen mit Heranwachsenden und Erwachsenen in der alltäglichen Arbeit fallen mir dabei einige besondere Ereignisse ein.

  • Als erstes möchte ich den Festakt zur Verleihung der Auszeichnung „Schule mit Courage-Schule ohne Rassismus“ nennen. Die Initiative ging im Frühjahr 1996 von Schülerinnenund Schülern aus. Einer von ihnen war mein Sohn. Ihr Argument war, dass zu einem Gymnasium, in dem über 40 Nationalitäten vereint lernen, diese Selbstverpflichtung gut passen würde. Ich darf auch erwähnen, dass die genannte Auszeichnung mehrere Morddrohungen gegen mich zur Folge hatte, was aber an meiner Überzeugung nichts geändert hat.
  • Das 2.Ereignis betrifft den August 2002. Oder und Elbe waren über die Ufer getreten und hatten vor allem in Sachsen riesige Schäden hinterlassen. Wir erfuhren von einer Schule in Schmiedeberg an der Weißeritz, die ihre Turnhalle verloren hatte. Wir initiierten einen Spendenlauf auf dem Sportplatz an der Oberbergischen Straße. Eine niemals für möglich gehaltene Solidarität im Kollegium und in der Eltern- und Schülerschaft führte letztlich zu einer Summe von 26.000 €, die in neue Sportgeräte investiert wurde.
  • Der 3.Höhepunkt ist sicherlich die Umbenennung unseres Gymnasiums nach seinem ehemaligen Schüler Johannes Rau. Wir hatten noch zu Lebenszeit von Johannes Rau angefragt, ob er mit einer Namensgebung nach ihm einverstanden sei. Christina Rau hat sich dann für die Umsetzung des gemeinsamen Wunsches eingesetzt.
  • Als vierten Fixpunkt meiner Erinnerung möchte ich den Erwerb des Gütesiegels für Individuelle Förderung nennen. Fast 3 Jahre hatten wir uns beraten und zuweilen auch gestritten, welches Konzept für unsere Schule das richtige sei. Dieser Prozess hat im Kollegium aber letztlich ein Bewusstsein von Identität geschaffen. Als der Anruf aus Düsseldorf kam, dass wir das Gütesiegel erhalten sollten, war ich sehr stolz und zufrieden.
  • In meinem letzten Jahr als Schulleiter durfte ich die Verleihung des Titels „UNESCO-Projektschule mitfeiern. Unser Grundgedanke war und ist es, dass die Zukunft weltoffene, politisch kompetente und handlungsfähige Menschen mit Gestaltungskompetenz und Visionen von zukünftigen Lösungen braucht. Mit der Bewerbung UNESCO-Schule zu werden, sind somit zu Beginn dieses Schuljahres neue Leitideen und Visionen entstanden. Visionen vermitteln das positive Gefühl und die Energie für eine Aufbruchsstimmung.

Wie Sie alle wissen, endet meine Zeit als Schulleiter unseres Gymnasiums am 31.7. dieses Jahres. Die Gewissheit ein Kollegium geleitet zu haben, dass täglich bemüht ist, gute Schule zu machen, das innovativ auf Veränderungen unserer Gesellschaft zugeht und das die Gedanken der Toleranz mitträgt, hat mir oft Mut gegeben und die Basis geliefert, dass ich fast jeden Tag gerne die Arbeit aufgenommen und fortgeführt habe. Dafür bin ich dankbar!

Ich wünsche der Schule und den Menschen, die in ihr lehren, lernen und sich wohlfühlen, dass der Geist, gute Schule tagtäglich zu gestalten, lange bestehen bleibt.